Blog: Die ersten Stunden Österreichs als Republik.

Aufbruch in die Selbstbestimmung – der blutige Weg zur Mündigkeit

Salopp gesagt: Obwohl im November 1918 der Erste Weltkrieg endete, kehrte noch lange nicht der Frieden ein. Das Gemetzel auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben war vorbei. Aber in den Hauptstädten, in den Regierungsvierteln und auf den Stadtplätzen waren Versammlungen, Aufmärsche und teils Revolutionen im Gange, die bei unterschiedlichster Ausrichtung vor allem eines gemeinsam hatten: das alte System der Monarchien endgültig zu beseitigen und das Machtvakuum zu füllen, das sie hinterlassen hatten.

Auch Österreich findet den Weg zur Republik 

Am 12. November 1918, einen Tag nach Ende des Ersten Weltkriegs, rief die provisorische Nationalversammlung in Wien die „Republik Deutschösterreich“ aus. Basierend auf dem Grundgedanken des Selbstbestimmungsrechts der Völker, dass nicht mehr Könige und Monarchen über das Schicksal der Menschen entscheiden sollten, sondern die Menschen selbst. Und zwar alle Menschen, auch (und ganze besonders) die bis dato im politischen Prozess marginalisierten Frauen. So führte Österreich gleichzeitig mit Ausrufung der Republik „Deutschösterreich“ das allgemeine Wahlrecht für Frauen ein. Ein extrem wichtiger Pfeiler moderner Demokratien – allerdings noch unter der aus heutiger Perspektive seltsam anmutenden Auflage, dass Frauen und Männer ihre Stimmen in verschiedenfarbigen Kuverts abgeben mussten.
Andererseits zeichnet sich der dunkle Weg, der Österreich bevorstand, schon an diesem Tag ab: Bei der Verkündung der Republik fallen Schüsse, es wird mit Gewehren auf das Parlament gefeuert, Panik bricht in der wartenden Menschenmenge aus, neben unzähligen Verletzten gibt es mit einem Mann und einem Kind auch zwei Todesopfer. 
Das sind die ersten Stunden Österreichs als Republik. 
Am 16. Februar 1919 kam es zum nächsten Meilenstein: Das erste Parlament in der Geschichte Österreichs, das in freier und gleicher Wahl berufen worden war, trat zusammen. Eine neue Ära, basierend auf dem demokratischen Entscheidungsrecht, war angebrochen. 

Rote Linien

Aber auch andere Anwendungsfälle für das Selbstbestimmungsrecht ließen nicht lange auf sich warten. Volksentscheide wurden mitunter dort direkt aufgerufen, woTatsachen am Nachkriegs-Verhandlungstisch geschaffen werden mussten.
In Deutschland wurde etwa 1920 anhand einer Volksabstimmung Schleswig geteilt, in einem Dänemark zugehörigen nördlichen und einem Deutschland zugehörigen südlichen Teil. Es gab aber auch Abstimmung über schlesische und preußische Gebiete. 
Auch in Österreich kam es mehrfach zu Volksabstimmungen. Für Österreich als Überbleibsel der Österreichisch-Ungarischen Monarchie war die Frage über das Staatsgebiet naturgemäß eine Existenzfrage. Und – verkürzt gesagt – in jeder Himmelsrichtung gab es Probleme. 

Nach Norden hin befürworteten Zahllose einen Anschluss an Deutschland, was sich auch im Namen der Republik „Deutschösterreich“ deutlich ausdrückte.

Im Osten des Landes, an der Grenze zu Ungarn, dräute ein massiver Grenzstreit herauf, da sowohl Österreich als auch Ungarn die Region „Deutsch-Westungarn“ für sich beanspruchten. Die Siegermächte gliederten das Gebiet schließlich Österreich an, führten für die wichtige Region um Sopron/Ödenburg aber eine unter den Zeitgenossen höchst umstrittene Volksbefragung durch. Das fragliche Gebiet blieb gemäß des Abstimmungsergebnisses bei Ungarn. Wir kennen den Teil, der insgesamt an Österreich fiel, heute als unser Bundesland Burgenland. Aufgrund der Abstimmungsergebnisse wurde aber nicht Sopron die Hauptstadt sondern Eisenstadt. 
Gänzlich anders kam es im Westen. 1919 stimmten 81% der Voralbergerinnen und Vorarlberger für eine Abspaltung vom wirtschaftlich darniederliegenden Österreich und votierten mit dieser überwältigenden Mehrheit für einen Beitritt zur Schweiz – der nicht zustande kam, da die Schweiz dieses Angebot mit Rücksicht auf konfessionelle Gründe von vornherein ablehnte. 
Im Süden war natürlich die Kärntner Volksabstimmung das zentrale Ereignis. 
Vier Jahre Krieg gingen fast nahtlos in den Kärntner Abwehrkampf über. Dieser endete schließlich 1919 auf Druck des Obersten Rats der Alliierten in Paris und machte den Weg für die Volksabstimmung in Südkärnten, wie im Friedensvertrag von St. Germain festgehalten, frei. Das Ergebnis vom 10. Oktober 1920 ist bekannt: Mit einem eindeutigen Ergebnis von 59% blieb die Einheit Kärntens gewahrt und seine Zugehörigkeit zu Österreich, das seit Oktober 1919 „Republik Österreich“ hieß, wurde untermauert. Damit gab Kärnten ein starkes, demokratisches Bekenntnis ab – und es war eines der ersten seiner Art. Denn der offene Grenzstreit bedeutete, dass man erst verspätet an der ersten Nationalratswahl 1920 teilnehmen konnte. In Kärnten wurde die Wahl im Juni 1921 nachgeholt. Im Burgenland dauert es aufgrund der Gebietsstreitigkeiten mit Ungarn sogar bis 1922.
Somit war eine der allerersten demokratischen und auf dem gleichen und freien „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ fußende Entscheidung, die die Kärntnerinnen und Kärntner je getroffen haben, gleich eine über die Einheit und Zukunft des Landes. Höher kann der Einsatz nicht sein.

Der Weg in den Untergang – und in die Zukunft

Die Grenzen Österreichs waren somit abgesteckt, die Abgeordneten berufen. Jetzt hieß es den Alltag bewältigen – und dieser war eine erdrückende Aneinanderreihung von Krisen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Natur. Die noch wenig gefestigten demokratischen Institutionen hatten Hyperinflation, Hunger und politischer Radikalisierung auf Dauer insofern wenig entgegenzusetzen, da statt Zusammenarbeit vor allem Gegnerschaft das politische Handeln bestimmte. Das führte zu einem Klima, in dem demokratiefeindliche Handlungsweisen allmählich zunahmen – und dann ging es Schlag auf Schlag. 
Mit dem Justizpalastbrand von 1927 steuerte Österreich bereits direkt auf einen Bürgerkrieg zu. 1929 begann mit der Weltwirtschaftskrise eine beispiellose Geldentwertung. 1933 schaltete Dollfuß das Parlament aus, riss die Macht an sich und wandelte Österreich in den austrofaschistischen Ständestaat um. Im Folgejahr brach der Österreichische Bürgerkrieg aus und forderte hunderte Tote als Opfer. Im Juli 1934 putschen die Nationalsozialisten und ermorden Dollfuß. 1938 wurde Hitlers Einmarsch am Heldenplatz frenetisch bejubelt und die nationalsozialistische Terrorherrschaft in Österreich begann. Danach hörte Österreich als Staat für sieben Jahre auf zu existieren. 
Schon kurz nach Gründung der Ersten Republik war also nichts mehr von ihr übrig außer Scherben, Schutt und Asche. Oder? Ja, man hatte das Recht für das Volk durchgesetzt – und es anschließend wieder verloren. Aber: Die Erste Republik hatte wichtige Grundsatzarbeit geleistet, an die man nach dem Zweiten Weltkrieg anknüpfen konnte. So wurde etwa die Verfassung, die unlängst wieder verstärkt in den Fokus geraten ist, in ihrer Grundform schon 1920 beschlossen.
Vor allem aber war die Erste Republik ein Beispiel. Vielleicht kein leuchtendes aber dafür ein umso anschaulicheres. Sie hatte durch ihr eigenes Ableben zahllosen Verantwortungsträgern und Verantwortungsträgerinnen, die Österreich und Demokratie nach 1945 wiedererrichten mussten, hautnah ein drastisches Beispiel gegeben, wie in Land in den Totalitarismus stürzt – und welche Mechanismen es braucht, um Extremismus abzuwehren. Die Erste Republik war der erste Versuch der österreichischen Demokratie, auf eigenen Beinen zu stehen. Es anders und besser zu machen. Auf einem sehr steinigen Weg kam sie ins Straucheln und stürzte. Aber wie ein Kind, das sich wieder hochkämpft und es noch einmal und noch einmal probiert, gaben auch die demokratischen Kräfte in Österreich nie auf. Sie überdauerten, im Untergrund, im Exil, im Widerstand oder unter dem Deckmantel der Konformität. Und als sich 1945, als Österreich durch die Alliierten befreit wurde, die Chance wieder ergab, schlugen sie – auch diesmal mit einem Meer an Toten im Hintergrund – erneut die Pflöcke für eine unabhängige Republik Österreich ein und ließen nicht locker, bis es 1955 heißen sollte: „Österreich ist frei!“ 
Sie legten so den Grundstein für ein Fundament, das bis heute unsere Demokratie trägt. Es wurde mit dem Kostbarsten erkauft: mit Menschenleben. Es ist ungeheuer stark – aber nicht unangreifbar. Dafür zu sorgen, dass es auch in schwierigen Zeiten nicht zu bröckeln beginnt, ist unser aller Auftrag. Wenn wir etwas aus dem Schicksal der Ersten Republik lernen können, dann ist es das: Demokratie muss täglich neu erkämpft werden.
PETER KAISER
12.11.2022